Einsicht in die Rohmessdaten wird erneut zugesprochen

Im Streit darum, ob die Rohmessdaten, digitale Falldateien der kompletten Messreihe und andere Unterlagen, die sich bei der Verwaltungsbehörde und nicht in den Gerichtsakten befinden, den Betroffenen bzw. seinem Verteidiger zugänglich gemacht werden müssen, hat sich das Landgericht Köln mit Beschluss vom 11.10.2019, 323 Qs 106/19, eingemischt. Dieses hat das Einsichtsrecht aufgrund des Grundsatzes des fairen Verfahrens und des Gebots der Waffengleichheit gem. Art. 20 GG, Art. 6 EMRK, abgeleitet. Aus Art. 6 Abs. 3a EMRK ergibt sich, dass jede angeklagte Person mindestens das Recht hat, in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden. Diese Verpflichtung richtet sich nicht nur an die Gerichte sondern auch an alle staatlichen Organe, die auf den Gang eines Straf- oder Bußgeldverfahrens Einfluss nehmen. Auch bei sogenannten standardisierten Messverfahren steht der Anspruch auf Einsicht dem Verteidiger bzw. dem Betroffenen jedenfalls dann zu, wenn ein entsprechendes Herausgabeverlangen gegenüber der Verwaltungsbehörde ebenso erfolglos geblieben ist und ein anschließender Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 62 OWiG. Es gäbe keinen Erfahrungsgrundsatz dahingehend, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen dessen zuverlässige Ergebnisse liefert (unter Verweis auf BGH, Beschluss vom 19.08.1993, 4 StR 627/92) und zum Anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (z. B. OLG Karslruhe, Beschluss vom 16.07.2019, 1 Rb 10 Ss 291/19). Bei einem standardisierten Messverfahren kann der Betroffene die Richtigkeit der Messung nur angreifen, wenn er konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Messung aufzeigen kann. Eine pauschale Behauptung genüge dabei nicht. Deswegen ist ein folglich differenzierter und dezidierter Vortrag dem Betroffenen nur möglich, wenn er oder sein Verteidiger auch Zugang zu den genannten Daten des Messsystems hat und diese mit Hilfe eines Sachverständigen überprüfen kann. Dabei ist es zudem unerheblich, ob bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind. Ohne umfassende Kenntnis der zugrundeliegenden Daten ist es der Verteidigung nicht möglich, hier sachgemäß Beweisanträge zu stellen und Beweismittel vorzulegen.

Es rückt wieder ein Schritt in Richtung Zurverfügungstellung von Daten für die Verteidigung.

Dem hat sich zuletzt auch das Amtsgericht Gummersbach mit Beschluss vom 20.11.2019, 85 OWi-932 Js 9226/19-269/19, angeschlossen.

Mehr als 100 km/h innerorts führt zur Alleinhaftung auch bei Vorfahrt

Einen besonders krassen Fall einer Geschwindigkeitsüberschreitung musste sich das Kammergericht in Berling vornehmen. Der Kläger fuhr mit weit mehr als 100 km/h innerorts durch die Stadt. An einer Kreuzung, an der er Vorfahrt hatte, wurde ihm die Vorfahrt genommen. Es erfolgte ein erheblicher Unfall, aus dem der Kläger einen erheblichen Schmerzensgeldanspruch geltend gemacht hat. Das Kammergericht verneinte den Schmerzensgeldanspruch mit der Begründung, die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um mehr als das Doppelte, innerorts absolut über 100 km/h, führt zu einer Alleinhaftung desjenigen, der so schnell fährt, auch wenn der Handelnde an sich eindeutig die Vorfahrt hat. Ein Mitverschulden desjenigen, der dem Handelnden gegenüber die Vorfahrt verletzt hat, tritt hier vollständig zurück. Es handelt sich um einen derart besonders schwerwiegenden Verkehrsverstoß, bei dem kein Raum mehr für eine Haftung des Vorfahrtsverletzers bleibt.

Standardisierte Geschwindigkeitsmessung ohne Rohdatenspeicherung

Entgegen der neuen Strömung, nach der ein Verstoß gegen den Grundsatz des Fernverfahrens anzunehmen ist, wenn keine Rohdaten vorhanden sind, kam das OLG zu dem Ergebnis, dass die Messung mit dem Trafistar S330 gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und des Fernverfahrens nicht vorliegt. Anträge auf Überlassung von digitalen Messdaten seien insofern nur Beweisermittlungsanträge, deren Ablehnung unter Aufklärungsgesichtspunkten gerügt werden könne (wie auch OLG Bamberg NZV 2018, 425; OLG Oldenburg ZfS 2017, 469; OLG Hamm VRR 8/2017, 18; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2018, 156; OLG Koblenz, Beschluss vom 17.07.2018, 1 OWi 6 SsBs 19/18; entgegen VerfGH Saarland NZV 2018, 275).

Das Bayerische Oberste Landesgericht (Beschluss vom 09.12.2019, 202 ObOWi 1955/19) nimmt kein Verwertungsverbot allein deshalb an, weil durch die Verfolgung einer Verkehrsordnungswidrigkeit durch ein Messgerät, welches alle Voraussetzungen eines standardisierten  Messverfahrens erfüllt und keine Rohmessdaten aufzeichnet, abspeichert, vorhält oder sonst zugänglich macht. Auch würden Daten nicht unterdrückt. Das bayerische OLG verweist auf OLG Oldenburg, Beschluss vom 09.09.2019, 2 Ss (OWi)233/19; OLG Köln, Beschluss vom 27.09.2019, 1 RBs 309/19; KG, Beschluss vom 02.10.2019, 162 SS 122/19; OLG Stuttgart, Beschluss vom 19.09.2019, 1 Rb 28 Ss 300/19; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 06.11.2019, 2 Rb 35 Ss 808/19; OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.11.2019, 1 Ss OWi 81/19; entgegen VerfGH Saarland NJW 2019, 2456.

Zu kritisieren ist daran, dass es unverständlich sei, warum das Gericht meint, es bestünde kein Anspruch darauf, dass belastende Beweise jederzeit und vollständig rekonstruierbar sein müssen. Weiter sei es unverständlich, dass das Gericht es im Rahmen der Herausgabe von Messdaten über unerheblich hält, dass der Betroffene hier über den Antrag nach § 62 OWiG eine Herausgabe der Messdaten versucht hat (so Deutscher, STRR 05/2020, Seite 30).

Haftung eines Kindes im Straßenverkehr

Ein 8-jähriges Kind fuhr mit dem Fahrrad auf einer Uferpromenade entlang. Die Eltern gingen in Ruf- und Sichtweite einige Meter hinter dem Kind. Das Kind blickte längere Zeit zurück und steuerte auf eine Fußgängerin zu, die nicht mehr ausweichen konnte. Die Eltern haben sich bemüht, das Kind durch Rufe zu warnen. Die verletzte Fußgängerin verklagte das Kind und die Eltern. Das Oberlandesgericht Celle verwies dabei in zweiter Instanz darauf, dass nur Kinder unter 7 Jahren nicht für Schäden grundsätzlich verantwortlich sind gem. § 828 Abs. 1 BGB. Bei Kindern zwischen 7 und 10 Jahren sind diese nicht verantwortlich, wenn es sich um einen Unfall mit einem Kraftfahrzeug, eine Schienenbahn oder eine Schwebebahn handelt. Bei Vorsatz sieht dies anders aus. Dies ergibt sich aus § 828 Abs. 2 BGB.

Ist ein Kind zwischen 7 und 18 Jahre alt, ist es gem. § 828 Abs. 3 BGB für einen Schaden, den es einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn es bei Begehung der schädigenden Handlung nicht die erforderliche Einsicht hat.

Das Oberlandesgericht Celle musste sich folglich mit der Frage auseinandersetzen, ob ein 8-jähriges Kind, welches bereits seit dem 5. Lebensjahr regelmäßig auch im Straßenverkehr Fahrrad fährt, bewusst ist, dass es während der Fahrt nach vorne schauen und nicht über einen längeren Zeitraum nach hinten blicken darf. Es hat sich daher auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob das Kind hätte voraussehen können und müssen, dass dies zu Verletzungen bei Fußgängern führt. Das Oberlandesgericht Celle hat das Kind persönlich angehört und ist davon überzeugt, dass dem Kind dies im Unfallzeitpunkt bewusst gewesen sein muss. Folglich hat das Gericht der Verletzten Schadenersatz zugesprochen.

Zur Beachtung: Es ist bei Kindern über 7 Jahren daher immer zu prüfen, ob im konkreten Fall eine Einsichtsfähigkeit für die Handlung und für den dadurch verursachten Schaden gegeben ist. Dies kann und wird bei jedem Kind anders sein. Eine pauschale Zuordnung verbietet sich hier.

Unfallgeschädigter muss Gutachter über Vorschäden aufklären

Bei einem Verkehrsunfall, insbesondere wenn er unverschuldet ist, ist bei Schäden von mehr als € 700,00 ein Gutachter einzuschalten, um die Höhe des Schadens festzustellen. Das OLG Düsseldorf hat mit seinem Urteil vom 05.03.2019, 1 U 84/18, festgestellt und darauf hingewiesen, dass dem Geschädigten die Obliegenheit trifft, den Gutachter über alle Schäden aufzuklären, die nicht zum Unfallereignis gehören. Offenbare Gebrauchsspuren und Schäden, von denen erwartet werden kann, dass der Gutachter diese als nicht unfallbedingt erkennt, bleiben außen vor.

Wieder einmal Geschwindigkeitsmessung – Einsicht in Gebrauchsanweisung ja – Messdaten eher nein

Mit der Problematik der Überlassung der Messdaten zur Überprüfung eines Vorwurfs der Geschwindigkeitsüberschreitung hat es sich der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz zu befassen. Er traf seine Entscheidung am 15.01.2020 unter dem Aktenzeichen VGH B 19/19.

Hinsichtlich des Rechts auf Einsichtnahme in die Aufbauanleitung des Messgeräts bestünde ein Anspruch auf Einsicht, hergeleitet aus den Rechten auf effektiven Rechtsschutz und dem Recht auf den gesetzlichen Richter. Auch wenn sich die Aufbauanleitung nicht bei den Akten befindet, bestünde sofern ein Recht auf Einsicht. Dies rechtfertige auch die Zulassung der Rechtsbeschwerde. Bei Rechtsprechung, die diese Frage nicht einheitlich behandle, sei die Rechtsbeschwerde vielmehr zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen und auf den Bußgeld hin eine Besetzung mit drei Richtern zu übertragen.

Hinsichtlich der Frage, ob beim geltend gemachten Anspruch auf Überlassung der Messdaten entschied der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz jedoch nicht. Der Gedankengang des Verfassungsgerichtshof des Saarlandes sei nicht zwingend. Das Ordnungswidrigkeitenverfahren unterscheide sich vom Strafverfahren insbesondere auch dahingehend, dass neben den Rechten des Betroffenen auch die Erfordernisse einer funktionierenden Rechtspflege in den Blick zu nehmen seien. Andererseits solle in dieser Frage erst erneut über den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde entschieden werden, bevor hier weitere konkrete Entscheidungen getroffen werden können.

Vorsteuerabzugsberechtigung beim Unfall mit einem Leasing-Pkw

Die Mehrwertsteuer erhält bei einem Verkehrsunfall nicht erstattet, wenn der Geschädigte vorsteuerabzugsberechtigt ist. Wie ist es aber nun bei einem Leasing-Fahrzeug? Damit musste sich nun das OLG Brandenburg im Urteil vom 01.08.2019, 12 U 11/19, befassen. Es entschied, dass wenn der Leasing-Nehmer die Reparaturen im eigenen Namen und auf eigene Rechnung durchführt, auf die Frage der Vorsteuerabzugsberechtigung des Leasing-Nehmers abzustellen ist.

Tankstellenschwamm verkratzt Motorhaube

Jeder kennt das. An so ziemlich jeder Tankstelle findet sich ein Eimer mit einem Schwamm, der zur Scheibenreinigung dienen soll. Im Bereich des Landgerichts Coburg nutzte ein Autofahrer diesen zur Reinigung der Motorhaube. Diese wurde verkratzt. Das Landgericht Coburg (Urteil vom 15.03.2019, 33 S 70/18) wies die Klage des Fahrzeugbesitzers gegen den Tankstellenbetreiber ab. Der Fahrzeugbesitzer habe dies allein zu verantworten. Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung des Tankstellenbetreibers sei nicht ersichtlich. Zu spekulieren bleibt über den genauen Grund. Es ist anzunehmen, dass über den Zustand des Schwammes, der lediglich aus Höflichkeit zur Verfügung gestellt wird, der nur für die Scheibenreinigung dient oder der Tankstellennutzer hier selbst schauen muss, ob der Schwamm zur Motorhaubenreinigung geeignet ist.

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